„Wahn und Vernunft kringeln sich“

Wie erinnert man sich an einen Malefizprozess?
Ein Gespräch zwischen Gerald Koll (Buch, Regie) & Jörg Meyer (Musik)

JÖRG MEYER: Ursprünglich, also vor vier Jahren, wolltest Du doch einen Dokumentarfilm drehen. Was ist daraus geworden?

GERALD KOLL: Ich würde sagen: ein Hörspiel mit Bildern.

JÖRG MEYER: Wieso kein klassischer Dokumentarfilm?

GERALD KOLL: Also mit Experteninterview und Reenactments? Mich stört daran oft, dass solche Dokumentarfilme zu selbstgefällig sind: Experten fällen Urteile im Bewusstsein moralischer Überlegenheit. Reenactments sind meist ein mieser Notbehelf voller Klischees und historischer Fehler.

JÖRG MEYER: Was könnte man anders machen?

GERALD KOLL: Man könnte sie aus dem Spiel lassen: die Experten, Reenactments und vor allem die Moral. Ich suche einen Weg, die Vergangenheit selbst zu Wort kommen zu lassen. In diesem Fall ist das Anje Preetzen. Sie brachte den Prozess ins Rollen, indem sie ihre Stiefmutter der Hexerei bezichtigte. Wir hören, was sie zu erzählen hat und machen so den Wahrnehmungshorizont des 17. Jahrhunderts sichtbar. Zu dieser Zeit blickt man anders auf die Welt. Wer nachts einen Baum ansieht, ist nicht romantisch verzaubert, sondern hat Angst vor Dämonen, die im Geäst lauern. Das ändert alles.

JÖRG MEYER: Die Moral aus dem Spiel lassen? Was ist falsch daran, Hexenverbrennungen zu verurteilen?

GERALD KOLL: Nichts, aber ich zweifle, ob moralische Verurteilungen dabei helfen, Hexenverbrennungen und ähnliche – aktuelle – Prozesse massiver Diskriminierung zu verstehen. Schuldzuweisung und Empörung helfen nicht weiter. Die Frage wäre doch: Was steckt dahinter?

JÖRG MEYER: Und das wäre?

GERALD KOLL: Angst. Angst in allen ihren Ausprägungen. Angst vor Rechtsbruch. Angst davor, das Risiko einzugehen, dass womöglich doch Hexen in Kiel ihr Unwesen treiben. Wer konnte das ausschließen? Anje bestimmt nicht.

JÖRG MEYER: Weiß man, was Anje Preetzen gedacht und gesehen hat?

GERALD KOLL: Nein. In den Protokollen steht darüber natürlich nichts. Die Frage ist, ob diese 13-jährige Dienstmagd ihre Umgebung überhaupt mit „eigenen“ Augen interpretieren konnte. Ich würde vermuten: Nein. Sie, die nichts selbst entscheidet oder beurteilt, hat Folge zu leisten. Sie ist insofern eine passive Leerstelle, die mit Bildern ihrer Umgebung – also Kirche, Obrigkeit, Nachbarn – gefüllt ist. Deshalb sagt der Film, die Erinnerung sei eine „geliehene Galerie“.

JÖRG MEYER: Etwas bemüht, die Poesie …

GERALD KOLL: Mmh.

JÖRG MEYER: Auch die Wissenschaft kommt zu Wort. Davon dürfte das Mädchen wenig erfahren haben.

GERALD KOLL: Keine Frage, es ist ein erzählerisches Manöver, das Mädchen in die Kieler Akademie zu verfrachten. Ich wollte nicht auf die Bilder und Visionen der damaligen Wissenschaft verzichten. Sie sagen viel aus über das Weltbild dieser Zeit. Das Mädchen ist – mit seinen heute 350 Jahren – eine sehr abstrakte Figur und zugleich eine manische Sammlerin all dieser Bilder.

JÖRG MEYER: Aber ob die historische Anje Preetzen auch nur eines davon jemals gesehen hat?

GERALD KOLL: Vielleicht nicht. Man müsste sogar sagen: höchstwahrscheinlich nicht. Es ist Erfindung, aber die Grenze zwischen Erfindung und Fund ist dünn. Es sind ja lauter Fundstücke. Sowohl Bilder als auch Drehbuch sind eine Art Collage, zusammengesetzt aus Bildern und Quellenzeugnissen. Was man hört, ist recherchiert in den Quellen. Was man sieht, entspringt zumeist dem 17. Jahrhundert. Es ist ein Blick der Zeit auf sich selbst.

JÖRG MEYER: Was interessiert die Figur denn?

GERALD KOLL: Alles. Und zwar sehr genau. Sie will wissen, wie genau in Kiel gefoltert wurde. Wer in welchem Haus wohnte. Worüber gerade geforscht wurde. Wo genau die Richtstätte war (nicht etwa auf dem Kreienbarg, also Krähenberg, sondern am heutigen Jungfernstieg), wo der verrufene Hexenversammlungsplatz, der „düstern bergk“ war (nicht etwa im Düsternbrook, sondern auf dem Kahlenberg bei Schilksee). Sie ist eine Historikerin, die unbedingt alles ganz genau wissen will.

JÖRG MEYER: Vielleicht hatte das Mädchen Probleme mit seiner Stiefmutter.

GERALD KOLL: Möglich, aber persönliche Motive sind weder belegbar noch ergiebig, wenn man verstehen will, weshalb so eine Hexenverbrennung unausweichlich war. Mein Ansatz ist da anders: Niemand hat ein Interesse an dem Prozess, aber keiner kann sich gegen die Indizien wehren.

JÖRG MEYER: Nun ist das 17. Jahrhundert recht fern. Es ist die Wartezeit zwischen Reformation und Aufklärung, ein Loch, gefüllt mit Dreißig-jährigem Krieg.

GERALD KOLL: Stimmt, aber hier ereignen sich Umbrüche und Umwälzungen. Die Wissenschaft ist zugleich bibeltreu und unglaublich neugierig auf alles Unbekannte. In den Kunst- und Naturalienkammern stapelt sich die Beute der Expeditionen. Newton betreibt Alchemie. In den Laboren entdeckt man im neuen Mikroskop all die winzigen dämonischen Monster, die Gottes Natur zerstören. Fortschritt verläuft über Rückschritte. Wahn und Vernunft kringeln sich. Vielleicht kein Zufall, dass die Perücken immer lockiger werden.

JÖRG MEYER: Der Barock ist uns nicht so fern, wie man denkt. Im Film fällt doch einmal das Jahr 1739 als Datum des voraussichtlichen Weltuntergangs. Der Mensch des 17. Jahrhunderts stürmt dem Untergang gleichsam entgegen. Wie wir. Und dann Bach! Johann Sebastian Bach war ja auch in seiner „perückenden“ Rückwärtsgewandheit enorm zukunftsweisend, in seiner Zeit quasi überzeitlich. Bach, ein durch und durch barocker Mensch, verbindet in seiner Musik das Alt- mit dem Allzeitlichen, überwindet damit den Barock, indem er ihn auf die Spitze und ins Übermorgen treibt.

GERALD KOLL: Nun zwang ich Dich ja aber auch in die Noten des Schleswiger Hof-Komponisten Augustin Pfleger, der 1665 die Musik zur Einweihung der Kieler Universität beisteuerte. Furchtbar olle Musik, findest Du nicht? Bach stand noch in den Sternen.

JÖRG MEYER: D’accord. Pflegers „Odae Concertantes“ waren schnöde Loblieder auf die jeweiligen Herrscher – ganz konventioneller „Pop des Barock“. Gleichwohl enthält der sämtliche Affekte, dem barocken Menschen entschlüsselbar wie uns heute die Versatzstücke eines Pop-Songs. Seine „Odae“ sind simpel aber handwerklich gut gemacht. Eine Alltagsmusik des 17. Jahrhunderts, die wir für den Film wiederentdeckten. Wir haben sie wohl erstmals seit 350 Jahren wieder zum Klingen gebracht.

GERALD KOLL: Und deine eigene Musik zum Film?

JÖRG MEYER: Die versucht den Geist des Barock wachzurufen, ohne die 350 Jahre zu verleugnen, die zwischen Pfleger, meinem geliebten Bach und mir liegen, und auch nicht die Erfahrung der Moderne. Ich bin dabei so handwerklich „stoppelnd“ wie Pfleger, weil es Auftragsmusik ist – und ich nur ein Gelegenheits- und Hobby-Komponist. Ich setzte mir die Perücke auf, die ich freilich neu frisierte. Ich war und wollte auf Anjes „düstern bergk“ – und mich da mit ihr fürchten.